4. April

Es reicht mir vollkommen, von Schönheit umgeben zu sein. (Everet Ruess)

Ich erwache mit den ersten Vogelstimmen. Ein fahler Schimmer liegt über der Welt und verwandelt sich ganz langsam in helles Tageslicht. Bald ist der Himmel tiefblau und der reglose See ein riesiger Spiegel, in dem sich dieses Blau und all die Farben der Bäume am Ufer viel strahlender und kräftiger abbilden, als sie in Wirklichkeit sind. Ich bin überwältigt von so viel Schönheit, schieße Unmengen Fotos und kann mich gar nicht satt sehen.

5. April

Die wahre Ernte meines täglichen Lebens ist etwas so Unfassbares, Unbeschreibliches wie Himmelsfarben am Morgen und Abend. Ein wenig Sternenstaub, ein Stückchen Regenbogen – das ist alles. (Thoreau)

Als ich aus dem Zelt schaue, bietet sich mir das Bild eines postkarten-verdächtigen Sonnenaufgangs über dem Getesjön. Mit dem Frühstücken muss ich leider, obwohl ich ordentlich Hunger habe, noch eine Weile warten, denn das Nutella ist über Nacht steinhart geworden. Ich stecke das Glas zu mir in den Schlafsack und döse mit knurrendem Magen vor mich hin. Die Lachmöwen und Wildgänse über dem See veranstalten ein ohrenbetäubendes Konzert. Am Ufer sitzt eine Horde Enten. Einige haben den Kopf noch unterm Flügel, andere putzen aufwendig ihr Gefieder. 

6. April

Ich ging in die Wälder, weil mir daran lag, bewusst zu leben. Ich wollte mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens beschäftigen, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben. (Thoreau)

Den ganzen Tag über geht es an so wenig befahrener Landstraße entlang, dass ich mir zeitweise vorkomme wie der letzte Mensch auf Erden. Es regnet ununterbrochen und ich genieße die Stille. In der Gleichförmigkeit der Landschaft – Nadelwald, Sumpf und Heide – kann ich meinen Gedanken freien Lauf lassen. Mir fallen Patienten ein, die ich während der letzten Jahre in Studium und Beruf erlebt habe – darunter auch Schwerkranke und manche kaum älter oder gar jünger als ich. Ich weiß nicht, was Gott für meine Zukunft vorgesehen hat, aber ich bin unendlich dankbar, dass ich jetzt in diesem Augenblick dieses Wanderleben führen darf.

Menschen, die dem Tode nahe sind, glauben oft, sie hätten irgendetwas versäumt. Sie beklagen sich aber nur selten, zu wenig gearbeitet oder zu geringen Wohlstand angehäuft zu haben. Sie wünschen sich ganz andere Dinge, die für Geld und Macht nicht zu bekommen sind – gemeinsame Zeit mit einer geliebten Person zum Beispiel oder Versöhnung nach langem Streit. Sie würden alles darum geben, die Uhr zurückzudrehen, um sich den Zielen und Tätigkeiten zu widmen, die ihnen wirklich am Herzen liegen und endlich der eigenen Intuition und inneren Stimme zu folgen.

„Ach, hätte ich doch…“ – ja was denn eigentlich? Ich will mir diese Frage jetzt stellen, so lange ich noch das Gefühl habe, mitten im Leben zu stehen. Das kostet Mut, weil es voraussetzt, dass ich meine eigene Vergänglichkeit akzeptiere. Wie jedes Leben, so kann auch meines jeden Augenblick zu Ende sein. Sich das vor Augen zu führen, ist gar nicht so schmerzhaft, wie es klingt, sondern vor allem befreiend. Wenn ich es immer wieder aufs Neue wage, mir lebhaft vorzustellen, was ich heute tun würde, wenn ich morgen, in einem Monat oder in einem Jahr stürbe, dann kann ich ein Bewusstsein für das entwickeln, was mir wirklich etwas bedeutet.

Meinem tatsächlichen Entschluss, zu so einer langen Wanderung aufzubrechen, sind reichlich Zweifel vorausgegangen. „Aber du kannst doch nicht einfach weg, du musst doch arbeiten. Ein halbes Jahr aussetzen heißt auch weniger Rente und macht sich schlecht im Lebenslauf. Und außerdem, was willst du eigentlich? Es läuft doch prima, dir geht es gut, du lebst in einer glücklichen Beziehung, du verdienst anständig, bist abgesichert und hast alles, was du brauchst.“ Wieder und wieder habe ich über solche sicher gut gemeinten Ratschläge nachgedacht. Aber ich glaube, ich habe von den sterbenden Patienten etwas ganz Wesentliches gelernt: Am Ende meines Lebens wird nichts weiter stehen als die eine simple Frage, ob ich getan habe, was für mich ganz persönlich und nicht für irgendjemand anderen wichtig war. Keine Rentenversicherung, kein unkündbares Arbeitsverhältnis und auch kein abgezahlter Kredit für irgendein Auto oder Eigenheim werden mir helfen, diese Frage mit Ja zu beantworten. Im Gegenteil, oft ist es ein übertriebenes Bedürfnis nach Sicherheit, das mir den Blick auf meine wahren Wünsche verstellt. Egal wieviel ich monatlich einzuzahlen bereit wäre, eine Versicherung für ein glückliches und erfülltes Leben gibt es nicht. Das Leben ist einfach eine unsichere Sache.

Ich denke an das 18jährige Mädchen mit dem bösartigen Hirntumor, wie sie daliegt, der Schädel offen, die fünfte OP innerhalb eines Jahres. Ich denke an den Mann, ein Jahr älter als ich, Pankreaskarzinom, der mich beim Blutabnehmen aus gelben Augen ansieht. Ich denke an die junge Mutter mit Eierstockkrebs, ihr aufgedunsener Bauch wölbt sich unter dem dünnen Lacken. Sie weint, weil sie nicht weiß, wie sie ihrer dreijährigen Tochter die Wahrheit sagen soll. Ich weiß es auch nicht.

Alle diese Menschen sind tot. Sie sind nicht mehr hier. Sie können den Wind im Haar nicht spüren, die Regentropfen auf der Haut, die frische Luft, die müden Beine, den großen Appetit nach harter körperlicher Anstrengung. Das ist weder gerecht noch ungerecht, es ist einfach so. Den Sinn darin kennt Gott allein. Mir bleibt nur, in tiefer Dankbarkeit das Glück auszukosten, das mir geschenkt wird, und meine Augen zu öffnen für all das Schöne um mich herum. Ich will lernen, im Vorbeigehen zu genießen und loszulassen ohne Angst. Denn wenn ich meine Zeit dem vergeblichen Versuch opfere, Glück in Form von Reichtum oder Statussymbolen festzuhalten und zu besitzen, statt mich daran zu erfreuen, dann werde ich im Tod alles zurücklassen müssen, und mein Leben wird mir durch die Finger rinnen, als habe es niemals stattgefunden. 

7. April

Auf ein Dach über dem Kopf verzichte ich gern, wenn ich nur unter einem besternten Himmel sitzen darf; der einsame, unwegsame Trail, der mich an einen unbekannten Ort führt, reizt mich mehr als jeder asphaltierte Highway, und auch bin ich lieber vom tiefen Frieden der Wildnis umgeben als von der Unzufriedenheit, die in den Städten herrscht. (Everet Ruess)

Gerade will ich das Zelt aufschlagen, da geht ein kräftiger Hagelschauer nieder. Ich kauere mich auf dem Boden zusammen und verberge das Gesicht in den Händen. Ab und zu blinzle ich vorsichtig in den Himmel hinauf, an dem eine Jahreszeit die andere jagt. Heftiger Wind ist aufgekommen, Grau wechselt rasch mit Blau und dazwischen mischen sich bizarre, weiße Wolkenfetzen.

Nachdem der Schauer vorüber ist, sehe ich zu, dass ich rasch aufbaue und alles sicher im Zelt verstaue, denn am Himmel braut sich bereits der nächste Weltuntergang zusammen. Als ich den Reißverschluss hinter mir zuziehe, fallen schon wieder dicke Tropfen. Ich schäle mich auf ziemlich beengtem Raum und in umständlicher Rückenlage aus meinen feuchten Klamotten. Das Wetter wächst sich derweil zu einem Wolkenbruch aus. Der Wind rüttelt an meinem Zelt und der Hagel dröhnt ohrenbetäubend. Doch hört der Spuk ebenso abrupt auf, wie er begonnen hat. Auf einmal ist der Himmel wieder blau und der See funkelt in der Sonne.

Ich hänge mein nasses Zeug in die Bäume ringsum und setzte mich in den Zelteingang, um Tagebuch zu schreiben und den Weg für morgen zu planen. April, April! Nach etwa 15 Minuten räume ich alles hektisch ins Zelt zurück, weil der nächste Regen runterkommt, und so geht es noch ein paar Mal hin und her.

Während ich zum Abendessen ein paar Nudeln in mich hineinstopfe, lässt der Wind die merkwürdigsten Wolkenformationen über den leuchtend blauen Abendhimmel tanzen. Ich bin wie berauscht von dem herrlichen Schauspiel, große Freude, dies alles erleben zu dürfen, erfüllt mich, und plötzlich weine ich vor Glück.

8. April

Es stimmt nicht, wenn du glaubst, dass Glück einzig und allein zwischenmenschlichen Beziehungen entspringt. Gott hat es überall um uns herum verteilt. Es steckt in jeder kleinen Erfahrung, die wir machen. (Chris McCandless)

Das Wetter klart auf und Wildgänse fliegen über mich hinweg. Mehr und mehr fühle ich mich hier draußen zu Hause, und mein Körper gewöhnt sich an die tägliche Belastung. Meine Schultern beklagen sich nur noch selten über das Gewicht des Rucksacks, ich habe keine Blasen mehr und der krampfartig bohrende Schmerz meiner überanstrengten Fußmuskulatur, der sich während der ersten Wochen regelmäßig abends im Schlafsack gemeldet hat, ist vor ein paar Tagen einfach weggeblieben. 

9. April

Nie ist zu wenig, was genügt. (Seneca)

Schon früh morgens scheint die Sonne. Ein dicker Rentner im grob karierten, blauroten Bademantel schlurft über die Wiese zum Waschhaus und fragt mich, wo es hingehe. Ich zögere. Er betrachtet meinen großen Rucksack und grinst „Zum Nordkap, vielleicht?“ Ich bin etwas perplex. Noch nie hat jemand von sich aus diese Vermutung angestellt. Sehe ich schon so waldschratig und irre aus? „Mal schauen, wenn ich’s schaffe“, erwidere ich. Er wünscht mir viel Glück und scheint meinen Plan gar nicht so verrückt zu finden. Das tut gut.

Es ist Samstag, und der Supermarkt in Unnaryd macht erst um neun Uhr auf. Zwanzig Minuten muss ich warten. Ich lehne mich an die Hauswand, schließe die Augen und genieße die warmen Sonnenstrahlen im Gesicht. Plötzlich reißt mich Autolärm aus meinen Träumereien. Ein Typ in einem fetten Angeber-Ami-Schlitten lässt den Motor absichtlich laut aufheulen, auf dem Beifahrersitz eine auf Barbiepuppe gestylte junge Frau. Er hat die Scheibe runtergekurbelt und sieht mich grinsend an. Dann düst er weiter. 

Wahrscheinlich bleibt einem in diesem Kaff nicht viel anderes übrig, als im Kreis zu fahren, jedenfalls kommt er wenig später wieder vorbei und dann noch ein paar Mal. Er grinst immer aus Neue auf die gleiche unsympathische, triumphierende, herausfordernde und schadenfrohe Art und Weise. So als wollte er sagen: „Na du kleiner Looser, bei dir reicht’s wohl nur für ‘nen Rucksack, guck mich an mit meiner geilen Schnecke und meinem fetten Wagen.“ Ich versuche freundlich zurück zu schauen und lache dabei still in mich hinein. Dieser Mensch scheint mächtig Selbstbewusstsein daraus zu ziehen, mit einem Statussymbol samt sexy Braut durch die verschlafene südschwedische Provinz zu tuckern, und sein einziger Zuschauer ist ein schwuler, ökobesessener Irrer, der zum Nordkap wandert. Wer hier der Looser ist, ist eine Frage der Perspektive.

 

Ich kaufe Schokolade, Brot, Butter und Obst. Für meinen aktuellen Bärenhunger reicht das aus; morgen stoße ich schon wieder auf einen Supermarkt, und ich will nicht mehr mit mir herumtragen als nötig. Kurz hinter Unnaryd setze ich mich am Straßenrand ins Gras und frühstücke aus der dreckigen Hand direkt in den Mund, ohne Tisch, Stuhl oder Teller. Mehr als diese Wiese und den Himmel über mir brauche ich nicht, um restlos glücklich zu sein. Ich fühle mich auf eine nie gekannte Weise frei und unabhängig. Plötzlich steht mir klar vor Augen, wie viel Anstrengung ich bisher darauf verwendet habe, mich um Dinge zu bemühen, an denen mir nicht das Geringste liegt. Es gibt so Vieles, auf das es gar nicht ankommt und das ich getrost loslassen kann.      

10. April

Das Antlitz der Natur ist ein Ausdruck der Andacht. Wie die Gestalt Jesu steht sie da mit geneigtem Haupt und den Händen über der Brust gefaltet. Der glücklichste Mensch ist derjenige, der von der Natur die Verehrung lernt. (Emerson)

In der Morgendämmerung ist es bekanntlich am kältesten. Das bekomme ich heute früh mal wieder so richtig heftig am eigenen Leib zu spüren. Bis halb sieben verharre ich in einem schlafähnlichen, von gelegentlichen Zitteranfällen unterbrochen Dämmerzustand. Dann ist endgültig Schluss. Ich schäle mich aus dem Schlafsack und schlüpfe im wahrsten Sinne des Wortes heulend und zähneklappernd in die gut ausgelüfteten, aber vor Kälte starren Wanderklamotten.

 

Es geht auf schmalen Pfaden durch den Wald. Bis in die Spitzen der kleinsten Tannennadel ist alles von einer feinen Reifschicht bedeckt. Im Westen ist der Himmel noch dämmerblau, im Osten reichen schon erste Sonnenstrahlen über den Horizont hinweg und lassen alles um mich her silbrig erglänzen. Ich stoße auf eine Lichtung, und ein Reh kreuzt in großen eleganten Sprüngen meinen Weg. Als ich unwillkürlich stehen bleibe, hält es ebenfalls inne. Wir sehen einander direkt in die Augen. Es liegt viel Weisheit im Blick des Tieres. Ich bin mir sicher, Tiere sind uns mindestens ebenbürtig. Sie können denken, fühlen und zielgerichtet handeln. Es ist eine Seele in ihnen, und ihr Leben ist nicht minder wertvoll als das Unsrige. 

11. April

Leben ist Sehnsucht, und es könnte sein, dass das Verlorene größer ist, denn alles was man ergriff, und dass man erst wirklich lebt, wenn man den Mut zum Verlieren hat, wenn  man alles abwirft, seinen Namen und sein Bürgertum und alles, nur sein Schicksal nicht, und wenn man lebt, als lebe man immer seinen letzten Tag. (Max Frisch)

Zum ersten Mal auf dieser Reise habe ich das Gefühl, dass die Luft nach Frühling schmeckt. Das Moos zwischen den Bäumen leuchtet in hellem, frischem Grün. Zitronenfalter flattern umher und die Vögel singen lauter als sonst.

Jenseits eines ausgedehnten Waldes geht es auf Feldwegen und schmalen Landstraßen durch eine agrarisch geprägte, leicht hügelige Landschaft. Überall verstreut liegen kleine und größere Gehöfte – alles Ansammlungen von Holzhäuschen in der so typischen dunkelroten Farbe. Das ist Småland, wie ich es mir vorstelle, das sind Scheunen, die Rasmus und Oskar gut als Schlafplatz dienen könnten, und in einem der Dörfer entdecke ich ein altes Gebäude mit einer Uhr über der Tür, das aussieht, als gingen hier die Kinder aus Bullerbü zur Schule.

 

Mein vindskydd liegt etwas erhöht auf einer weiten Lichtung. Ich hänge das Zelt in die Bäume, und die geschmolzene Reifschicht von heute Morgen entleert sich in dicken Tropfen. Der Eingang ist nach Westen ausgerichtet, so dass die Abendsonne mich noch lange wärmt. Als das schwindende Licht zum Lesen nicht mehr reicht, trete ich auf den Weg hinaus, um zu sehen, ob schon erste Sterne aufgegangen sind. Es ist vollkommen klar und der Blick weit und unverstellt – beste Bedingungen also. Jupiter zeigt sich wie immer als erster. Ich bleibe noch ein wenig wach, um auf mehr zu warten. Etwa eine Stunde später bietet sich mir ein Anblick, wie ich ihn noch selten erlebt habe. Der Himmel ist so voller leuchtender Punkte, dass ich Mühe habe, die bekannteren Sternbilder zu identifizieren. Orion und die Plejaden stehen tief am westlichen Horizont. Der Winter ist vorbei! 

12. April

Gehen ist eine Bewegung des potentiellen Innehaltens, stets und überall können wir stehenbleiben. Die Zeit läuft auf Zehenspitzen, unablässig. Im Gehen laufen wir den Gelegenheiten nicht davon. Geschwindigkeit ist ein Reißwolf, der unsere Träume zerfetzt. Der Geher sieht die Zeit mit anderen Augen. Bewegung verliert ihre Flüchtigkeit, gehend graben wir uns tiefer und intensiver in die Welt hinein, verweilen, anstatt auf der Oberfläche dahinzugleiten, bleiben verwundbar, auf uns allein gestellt. Der Augenblick ist das Ziel. Aus Mühsal entsteht Freiheit. Gehen ist eine Reise aus der Welt, die wir geschaffen haben, in die Welt, die uns geschaffen hat. (Ilija Trojanow)

Heute geht es stundenlang durch Kiefernwald, ganz so als sei ich zurück in Brandenburg. Die hohen schlanken Stämme stehen dicht an dicht auf einem üppigen Teppich aus Moos und Preiselbeersträuchern. Über mir wölben sich vor wolkenlosem, blauem Himmel die grünen Baumkronen. Der Waldweg ist von Nadeln und Zapfen übersät und ein holzig-harziger Geruch liegt in der Luft. Mit jedem Atemzug strömt der Frühling in mich hinein.

 

Als ich aus dem Wald heraus auf eine asphaltierte Straße trete, erblicke ich zu meiner rechten den Isaberg. Davor liegt der Ort Hestra und irgendwo dahinter der Campingplatz, den ich für heute Nacht ansteuern möchte. Ich überquere eine Bahnlinie, nicht weit entfernt stehen ein paar Häuser. Baulärm ist zu hören, und hinter einer Kurve stoße ich auf eine Straßensperrung. Mit dem Auto wäre hier Endstation, aber zu Fuß wird man mich vielleicht durchlassen. Ich frage einen der Arbeiter. Dazu ist beim Lärm der Presslufthammer zum Glück kein Schwedisch, sondern nur Zeichen-Sprache nötig. Er nickt mir freundlich zu und winkt mich vorbei. Ich stakse über Asphalttrümmer und den losen Sand der aufgerissenen Straße. Viele Arbeiter nehmen mich gar nicht wahr, andere lächeln, und manche halten den Daumen hoch, als wollten sie sagen „Hey, Wandern ist cool!“

13. April

Have no fear
For when I'm alone
I'll be better off
Than I was before
I've got this light
I'll be around to grow
Who I was before
I cannot recall
     Long nights allow me to feel I'm falling... I am falling
     The lights go out
     Let me feel I'm falling, I am falling safely to the ground
     Ah...
I'll take this soul that's inside me now
Like a brand new friend
I'll forever know
I've got this light and the will to show
I will always be
Better than before

 

     Long Nights (Soundtrack, Into the Wild)

Jetzt ist mir nach einem Schlafplatz zumute. Da mir der Nissan bei der Suche danach vor drei Tage schon einmal Glück gebracht hat, zweige ich auf einen schmalen Forstweg ab, schlage mich durchs Gestrüpp bis nahe ans Ufer und finde in einer von bewaldeten Hügeln eingefassten Mulde im hohen Gras ein Plätzchen für mein Zelt.

 

Ich schmeiße den Kocher an und warte hungrig darauf, dass das Wasser endlich brodelt. Was ich hineinschütte, ist nur Kartoffelbreipulver mit Gemüsebrühe, doch so hungrig wie ich bin, kommt es mir wie ein Festmahl vor. Den warmen Topf in beiden Händen setze ich mich auf die Uferböschung, lasse die Beine baumeln, lausche dem abendlichen Gesang der Vögel und schaue auf das strömende Wasser hinab. Ich fühle mich wohl an diesem Ort. Von Abend zu Abend gelingt es mir rascher, ein Gefühl der Vertrautheit mit meinem Schlafplatz entstehen zu lassen. Man kann lernen, einen fremden Platz als Heimat anzunehmen und sich ganz und gar zu Hause zu fühlen, auch wenn es nur für eine Nacht ist. Was zählt, ist der Augenblick und in diesem Augenblick habe ich keine andere Heimat als diese kleine Mulde am Fluss.

14. April

Es gibt doch einen Zwiespalt, der uns allen das Herz zerreißt, wenn wir die Bäume, die Hügel und Berge, die Seen und das Meer mit den Augen des Psalmendichters ansehen wollen als Spuren Gottes. Wir können mit der Realerfahrung der täglich neu zerstörten Schöpfung allein nicht leben. Wir suchen Inseln in der Flut, Augenblicke, wo wir die Sonne untergehen sehen oder den aufgehenden Mond betrachten, den ersten Schnee lieben oder ein rostgoldenes Blatt beim Taumeln beobachten. Diese Augenblicke, diese Inseln, diese Verstecke, wo die Erde noch atmet und wir ihre Kinder sind, nicht ihre Herren und Besitzer, diese Unterkünfte des Lebens, die die Technokratie noch nicht besetzt oder ersetzt hat, sind notwendig. Wir brauchen sie und müssen uns deswegen nicht für Eskapisten halten. Die Inseln der Schönheit, die wir brauchen, sie sind Erinnerung an das wirkliche Leben mitten im falschen. Jeder blühende Kirschbaum erinnert an Gottes wunderbare, geliebte Welt. Der Pantheismus ist nicht eine gefährliche Pseudoreligion, sondern ein Ausdruck unseres Bezogenseins auf Gott. Vielleicht ist es leichtsinnig, wenn ich sage, Gott lockt uns durch Schönheit. Meine Erfahrung ist ja nicht von der katastrophengesättigten Betroffenheit verschieden, ich lebe genauso auf der Müllhalde, die früher einmal Schöpfung hieß. Und doch lockt uns Gott jeden Tag mit diesen Spuren, diesen Resten. Und das brauchen wir. Mag sein, es funktioniert nur unter Tränen, dann lasst uns eben miteinander weinen. (Dorothee Sölle, Erinnerungen an das wirkliche Leben im falschen)

Der Himmel hat sich zugezogen und dicke dunkle Wolken deuten auf baldigen Regen hin. Bis zum nächsten vindskydd sind es noch etwa 4 km. Wenn ich mich ins Zeug lege, kann ich das in einer Dreiviertelstunde schaffen. Zwar sieht es im Moment nicht aus, als ob der Regen sich noch so lange Zeit lassen wird, aber ich beeile mich trotzdem. Vielleicht habe ich ja Glück.

Der Pfad ist von herumliegendem Laub rot gefärbt. Die weißen Stämme der Birken zu beiden Seiten leuchten im bläulich düsteren Licht des sich ankündigenden Unwetters. Das letzte Stück renne ich. Es geht bergab und ich lasse mich einfach nur fallen. Erste dicke Tropfen landen in meinem Gesicht. Da endlich sehe ich unten am Seeufer den vindskydd. Es sind keine hundert Meter mehr bis dorthin und einige Sekunden später plumpse ich samt Rucksack erschöpft auf die Holzplanken.

Zu meinem Erstaunen bleibt der große Weltuntergang aus. Die schwarzen Wolken verziehen sich, ohne nennenswert abzuregnen. Im Abendlicht beginnt der Waldrand unnatürlich stark, fast feuerrot, zu leuchten. Der See schillert in einer strahlenden Mischung aus Orange und Lila und wirft diese Farbenpracht fächerförmig in den Himmel zurück. Ich stehe fassungslos da und staune. Es ist eine ungeheure Gnade, derartige Augenblicke von beinah unwirklicher Schönheit erleben zu dürfen. Ich weine aus purer Dankbarkeit und Freude. Demut vor der Schöpfung ergreift mich. Ich spüre, wie klein ich bin und finde Erlösung in dem Gefühl, Teil von etwas so Großem und Herrlichem zu sein. Solche unbezahlbaren, unvergesslichen Momente lassen mich alle Strapazen vergessen. Dies ist mein Weg und ich weiß genau, warum ich ihn gehe!