31. Mai

Mehr und mehr komme ich zu der Überzeugung, dass ich dazu bestimmt bin, ein einsamer Wanderer der Wildnis zu bleiben. Ich werde ewig weiterwandern. Und wenn meine Zeit gekommen ist und der Tod naht, werde ich den abgelegensten, einsamsten, verlassensten Ort aufsuchen. Die Schönheit dieses Landes wird allmählich zu einem Teil meiner selbst. Ich fühle mich dem Leben entrückter, bin irgendwie sanfter und gütiger geworden. (Everet Ruess)

Ich fühle mich so geborgen und sicher wie selten zuvor in meinem Leben. Die Welt hier draußen ist mir Heimat geworden. Wo auch immer ich bin, sie nimmt mich auf und gibt mir ein Zuhause. Wenn ich schlafe, spüre ich die nackte Erde unter mir. Am Tag zerzaust der Wind mein Haar, die Sonne wärmt meine Haut und manchmal trommelt mir der Regen ins Gesicht. Ich stapfe durch Sumpf und Matsch, Wald und Wiese, über Berge und Felsen. Ich trinke aus den Flüssen und Bächen am Wegesrand. Ich lausche den Vögeln und bewundere die Schönheit der Schmetterlinge. Wenn ich aufstehe, überrascht mich die Pracht des Morgentaus, der wie ein Perlengewand über jedem Zweig und jedem Halm liegt. Abends kann ich mich kaum sattsehen am Farbenspiel der Wolken im Licht der tiefstehenden Sonne. Dann falle ich in einen tiefen und sorglosen Schlaf, aus dem ich gänzlich erholt erwache und voller Neugier und Freude den neuen Tag begrüße. Ich möchte nie wieder anders leben als so.

1. Juni

Keiner hat das Recht zu gehorchen (Hannah Arendt)

Als ich mir gerade einen Weg ins Dickicht bahnen will, hält ein Auto neben mir. Ein freundlicher, älterer Herr mustert mich durchs offene Fenster. Ich sei doch der Deutsche, der zum Nordkap läuft. Er habe etwas über mich in der Zeitung gelesen. Ich bin überrascht, dass mich immer noch Leute erkennen. Schließlich liegt die Begegnung mit Åsa inzwischen 11 Tage und über 23 mil zurück.

Er bittet mich um ein Foto. Klar, kein Problem! Ist ja nicht das erste Mal auf dieser Tour. Was wildfremde Menschen wohl in mir sehen, wenn sie sich so ein Bild anschauen? – Total bekloppt! Interessant! Beneidenswert! Will ich auch! – Wie dem auch sei, ich errege Aufmerksamkeit und zwar mehr als ich erwartet hatte. Es ist vor allem eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird: Warum machst du das?

Tja, warum mache ich das? Vielleicht, weil ich verzweifelt bin über den Zustand unserer Welt. Die Probleme unserer Zeit sind derart gravierend und verworren, dass kaum noch ein richtiges Verhalten vorstellbar ist. Ganz gleich, was ich tue, es scheint immer auf die eine oder andere Weise falsch zu sein. Ich fühle mich ohnmächtig und stecke den Kopf in den Sand. Klimawandel, Hungersnöte, Kriege, Gewalt und himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ich weiß über all das Bescheid und mache einfach nichts. 

Jeder Tag hier draußen in der Natur öffnet mir die Augen ein wenig mehr für das Wunder des Lebens, das in allen Geschöpfen gleichermaßen Gestalt gewinnt. Wir Menschen sind ein Teil dieses Wunders und zutiefst abhängig davon, und dennoch treten wir es so achtlos mit Füßen. Das macht mich wütend, verzweifelt, traurig und hilflos, doch zugleich fühle ich mich mit jedem Schritt ein kleines bisschen mutiger und stärker. Es gibt etwas, was ich, was jeder einzelne, was wir alle tun können: Den eigenen Kopf aus dem Sand ziehen und endlich anfangen, daran zu glauben, dass unser ganz persönliches Handeln etwas bewirkt – im Guten wie im Schlechten.

Was wir heute entscheiden, entscheiden wir nicht allein für uns oder unsere Familie oder eine überschaubare Gruppe von Personen. Jede Entscheidung, die jeder einzelne von uns trifft, ist eine Entscheidung für oder gegen unser aller Zukunft. Nicht allein hochrangige Politiker oder Wirtschaftsbosse müssen und dürfen entscheiden, jeder von uns hat jeden Tag unzählige Möglichkeiten, Dinge richtig oder falsch zu machen. Wie wir uns ernähren, wie wir uns fortbewegen, wieviel Energie wir verbrauchen – das alles sind keine Nebensächlichkeiten. Es sind die zentralen Fragen unserer Zeit, und von den individuellen Antworten, die wir finden, hängt unser aller Existenz ab. Wir tragen eine große Verantwortung, der wir uns jeder für sich stellen müssen. Wenn irgendwer heute beschließt, weniger Auto zu fahren, keine Fernreisen mehr zu machen oder regionale Produkte zu kaufen, dann ist das weder lächerlich noch vergeblich oder naiv, vielleicht ist es idealistisch, in jedem Fall aber von großer Bedeutung.

Ich will mich nicht bevormunden lassen, von niemandem, sondern das tun, was ich selbst kraft meines eigenen Verstandes moralisch für geboten halte. Falsches wird nicht richtiger, wenn es von oben verordnet ist, wenn man viel Geld dafür bekommt oder wenn alle es tun.

Als ich vor über zwei Monaten losgelaufen bin, hätte kaum jemand – mich eingeschlossen – für möglich gehalten, dass ich so weit kommen würde. Und trotzdem habe ich nicht aufgehört, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich bin eine unendliche Anzahl winziger Schritte gegangen, die mir einzeln oft so vergeblich erschienen, doch dass ich jetzt hier stehe, beweist mir, dass in Wahrheit kein einziger davon ohne Bedeutung war. Ich kann etwas bewirken, aus eigener Kraft! Das will ich spüren, und ich glaube deshalb unternehme ich diese Wanderung. 

2. Juni

Be a bright flame before me, o God

a guiding star above me.

Be a smooth path below me,

a kindly shepherd behind me

today, tonight, and for ever.

Alone with none but you, my God

I journey on my way;

What need I fear when you are near,

O lord of night and day?

More secure am I within your hand

Than if a multitude did round me stand.               (Saint Columban)

Es ist ein schwül-warmer Tag. Schon vormittags türmen sich die Wolken zu hohen, blumenkohlartigen Gebilden auf. Die Luft flimmert über dem Asphalt, kein Windhauch regt sich, die Baumkronen ragen vollkommen unbeweglich in den Himmel. Im Straßengraben blühen Löwenzahn, Lichtnelke und Hahnenfuß. Ab und an kreuzen Rentiere die Fahrbahn.

Allmählich verlasse ich die milde Ebene rund um den Indalsälven. Die schneebedeckten Berge rücken wieder näher, und von Ackerbau oder Weidewirtschaft keine Spur. Das saftige Grün des jungen Birkenlaubes, wechselt mit dem Beige der weiten Flächen voller Sumpfgras, die überall den Wald durchziehen. Dazwischen stehen in kleinen und größeren Ansammlungen die schmalen, hoch aufragenden Fichten des borealen Nadelwaldes.

Im Norden hat sich der Himmel dramatisch zugezogen. Die Landschaft ist in ein finsteres Leuchten gehüllt, das die Farb- und Formkontraste auf beinah unnatürliche Weise verstärkt. Hinter mir im Süden scheint nach wie vor die Sonne und strahlt wie ein Scheinwerfer die beiden blauschwarzen Wolkenwände an, die sich direkt vor meinen Augen aufeinander zu bewegen. Der hellblaue Streifen dazwischen wird zusehends schmaler und ein stetiges Grummeln erfüllt die Luft.

3. Juni

Ich küsse die Sonne, umarme den Mond

und halte ihn fest; mir genügt,

was sie für mich ersprießen lassen.

Was sollte ich mehr noch wünschen,

dessen ich gar nicht bedarf?                      (Genügsamkeit, Hildegard von Bingen)

Jenseits des Berges führt der Pfad zum Fluss Ansättån hinab, der sich laut tosend seinen Weg durch ein felsiges Bett bahnt und immer wieder Stromschnellen und kleine Wasserfälle bildet. Zu beiden Seiten wachsen Birken und dahinter stehen dunkel die Silhouetten der hohen schlanken Fichten. Ich finde ein Stück Wiese am Ufer, wo ich mein Nachtlager aufschlagen kann. Zwischen den weißen Stämmen leuchten gelb die Sumpfdotterblumen.

Mit einfallender Dämmerung werden die Konturen der Landschaft immer weicher. Die Sonne zieht lange knapp über dem Horizont entlang und taucht die Welt in ein geheimnisvolles Zwielicht. Dann hüllt sich der Himmel ganz in nächtliche Kühle und nur noch ein warmer goldener Schimmer durchglüht den Wald. Ich kuschele mich in den Schlafsack und lausche dem Rauschen des Flusses. Ich lächele, weil ich gar nicht anders kann, und langsam fallen mir die Augen zu. Die ganze Nacht über sind Fluss, Wald und Himmel in mir, und ich bin geborgen in immerwährender, sich selbst genügender Schönheit. 

4. Juni

Spar dich nicht auf. Deine Fülle wächst mit deiner Verschwendung. Es ist der Reichtum, ein Mensch zu sein, nicht der, etwas zu haben. Reichtum, der im Haben besteht, sichert sich durch Besitz, Stand und Privilegien. Es ist ein Reichtum, der dadurch zustande gekommen ist, dass andere arm gemacht worden sind. (Dorothee Sölle)

Bis zum Campingplatz in Rötviken am See Hotagen sind es nur noch 15 km. Um die Mittagszeit bin ich dort. Am Eingang quietscht ein Metallaufsteller im Wind. „Öppet“ (geöffnet) ist darauf zu lesen. Ich bin nicht undankbar für diese Info, denn ich hätte den Platz ansonsten für geschlossen gehalten. Weit und breit ist niemand zu sehen, auch kein Auto, Zelt oder Wohnwagen.

An einer kleinen Holzhütte mit der Aufschrift „Reception“ hängt eine Telefonnummer. Ich klopfe und drücke die Klinke, doch die Tür ist verschlossen. Als ich gerade mein Handy aus der Tasche ziehe, kommt ein schwarzer Pickup vorgefahren. Ein Ehepaar um die Fünfzig steigt aus – beide Typ Altrocker mit langen Haaren und mittlerweile unmodernen Lederjacken. Sie begrüßen mich freundlich, und ich kann sofort einchecken.

Es gibt hier nicht nur eine warme Dusche, sondern sogar eine Waschmaschine und einen Trockenschrank. Volltreffer! Die letzte Waschmaschine hatte ich vor einem Monat in Mora. Es wird höchste Zeit, denn in Seen, Flüssen und Waschbecken kriege ich mein Zeug auf Dauer nicht wirklich sauber.

Gegenüber ist ein kleiner Lebensmittelladen, der heute am Samstag noch bis 14 Uhr geöffnet hat. Ich bin also gerade noch rechtzeitig gekommen, um mir ein paar Extrakalorien zu besorgen. In der Campingplatzküche finde ich einen Backofen. Damit ist die Sache klar: Heute Abend gibt es Pizza!

Der Laden ist klein, aber ich bekomme alles, was ich brauchte. An der Kasse treffe ich die Frau vom Campingplatz. Sie kauft ein Paket Waschmittel und drückt es mir direkt in die Hand. Sie habe angenommen, dass ich bestimmt keines dabeihätte, also könne ich das hier benutzen und es dann einfach neben der Maschine stehen lassen. Wow, das ist echt nett!

Sie und die Kassiererin fangen an, mit mir zu plaudern und stellen die üblichen Woher- und Wohin-Fragen. Ich erzähle von meiner Tour. Die beiden schauen mich anerkennend an und erkundigen sich in aller Ruhe nach diesem und jenem. Sie scheinen alle Zeit der Welt zu haben. Kein Wunder, es sind ja sonst keine Kunden da. Hier ticken die Uhren echt anders. Ich stelle mir das Gedränge in einem Berliner Supermarkt am Samstag kurz vor Ladenschluss vor und bin sehr froh, hier und nicht dort zu sein.

5. Juni

Mein ist die Erde und alles, was sie enthält, und ihr seid meine Gäste und Mieter (3. Mose 25,23).

Auf der Hochebene angelangt öffnet sich eine herrliche Sicht auf den Berg Vinklumpen und das freie Fjäll ringsum. Ich stolpere querfeldein durch schmatzenden Sumpf. Was soll’s, es gibt wichtigere Dinge als trockene Füße. Ich atme tief ein und aus, jauchze innerlich und genieße in vollen Zügen die Weite der Landschaft und den unverstellten Blick in jede Richtung. So weit das Auge reicht nichts als karge Gras- und Heideflächen mit ein paar Birkenwäldchen und vielen kleinen Seen, die wie Diamanten in der Sonne funkeln. In den Tälern wiegt sich tiefgrüner Fichtenwald und am Horizont glitzern die Silhouetten schroffer schneebedeckter Berge.

Die Aussicht vom Gipfel des Vinklumpen ist atemberaubend. Ich stehe da, beseelt von der Schönheit unseres Planeten, an der ich mich niemals werde satt sehen können. Jedes Mal, wenn ich einen Berg erklommen habe oder an einem Seeufer stehe und ins Abendrot blicke oder die Kühle des Waldes atme und den Vögeln lausche, dann ist mir, als sähe, hörte und fühlte ich das alles zum ersten Mal. Ich bin erfüllt von kindlichem Erstaunen. Ich freue mich und lache, weil ich nicht anders kann vor lauter Glück.

Auf der anderen Seite des Berges erreiche ich eine von einem Bach durchflossene Senke, in der vereinzelt Birken und Weidenbüsche wachsen. Ansonsten ist der Boden von niedrigem Heidekraut bedeckt. Ohne Probleme finde ich eine weiche, ebene Stelle für mein Zelt. Es bleibt warm bis spät in die Nacht. Ich sitze noch lange draußen, schreibe, lese und genieße die herrliche Umgebung, die durch den Wechsel des Lichtes immer wieder neu und anders erstrahlt. Als ich auf die Uhr sehe, ist es kurz nach Mitternacht. Es ist der 6. Juni und ich habe soeben in meinen 35. Geburtstag hineingefeiert.

6. Juni

Reisen ist Leben. (Hans Christian Andersen)

Der Pfad verläuft in nordwestlicher Richtung über eine baumlose Ebene. Überall ragen spitze Felsen aus dem Erdreich und ab und an geht es hinab in flache Senken mit kleinen noch halb zugefrorenen Seen. Die bizarr geformten vereisten Stellen sind umrahmt vom tiefen Blau des freien Wassers, in dem sich der Himmel spiegelt.

Gegen Mittag steige ich in einen Pass hinauf. Das Vorankommen wird zusehends beschwerlicher, denn hier oben türmt sich noch ordentlich Schnee. Nach kurzer Zeit habe ich klitschnasse Füße und muss beständig meine knietief feststeckenden Beine befreien. Vor meinen Augen tanzt ein Horizont aus reinem Weiß, und immer, wenn ich den höchsten Punkt des Passes erreicht zu haben glaube, erscheint eine neue noch größere weiße Fläche. Dann endlich taucht hinter einer messerscharfen Kante aus Schnee, eine Bergkette auf. Ganz allmählich, Schritt für Schritt enthüllt sie sich. Erst sehe ich nur einzelne Gipfel, irgendwann kann ich etwas von der Form der Berge erahnen und schließlich ragt ein Panorama von überwältigender Schönheit vor mir in den blauen Himmel.

7. Juni

     Atem gottes hauch mich an
füll du mich wieder mit leben
dass ich was du liebst lieben kann
und rette was du gegeben

     Atem des lebens atme in mir
lehr mich die luft zu teilen
wie das wasser wie das brot
komm die erde zu heilen            (
Dorothee Sölle, nach Edwin Hatch “Breathe on Me Breath of God”)

Schon aus der Ferne vernehme ich ein beeindruckendes Tosen, das nach und nach zu einem ohrenbetäubenden Lärm anschwillt. Der Wald öffnet sich und ich blicke in eine bodenlos wirkende, enge Schlucht, aus der feine Wassertropfen hoch aufspritzen. Vor dem glänzend braun-grünen Hintergrund der feuchten, bemoosten Felswand gegenüber steht ein kräftig leuchtender Regenbogen. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich sogar noch einen zweiten, wenn auch viel blasseren, direkt daneben. Was für ein atemberaubendes Schauspiel!

Ich passiere eine Brücke, die den Fluss genau an der Stelle überquert, wo er in die Schlucht hinabschießt. Vom anderen Ufer aus kann ich bis auf den Grund des Canyons sehen. Der Regenbogen und das Wasser fallen von entgegengesetzten Seiten aufeinander zu. Unten scheinen sie miteinander zu verschmelzen und beständig bunt schillernde Perlen nach oben zu schicken, die über die ganze Breite der Schlucht hinweg einen ewig neu aufgeworfenen und wieder fallenden Schleier spannen.

Ich stehe und staune. Wieder einmal hat die Natur sich selbst übertroffen, was sie seitdem ich unterwegs bin beinah täglich tut. Ständig denke ich, schöner kann es nicht mehr werden und dann kommt wieder so ein Hammer. Der Hallingsåfallet ist wirklich spektakulär!

8. Juni

Annika fragte: "Dürfen wir mit den Fingern essen?" "Meinetwegen gern", sagte Pippi. "Aber ich halt mich an den alten Trick, mit dem Mund zu essen." (Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf)

Am späten Nachmittag treffen Micha und Sabine ein. Ich freue mich wahnsinnig, sie zu sehen. Zugleich ist es aber auch ein sehr merkwürdiges Gefühl, ein wenig als erhaschte ich aus weiter Ferne einen Blick in eine Welt, die mir so vertraut und doch unendlich weit weg ist.

Wir gehen gemeinsam zum Supermarkt, um fürs Abendessen einzukaufen. Da es in der Campingplatzküche einen Ofen gibt, muss es für mich Pizza sein, die ich mir mit extra viel zusätzlichem Käse belege. Micha und Sabine essen nur Salat und geben mir sogar noch davon ab. Ich schäme mich ein bisschen für meine Verfressenheit.

Nachdem ich drei Monate am Stück durchschnittlich 22 bis 23 km pro Tag gewandert bin, mit um die 25 kg auf dem Rücken, fühlt sich Hunger ganz anders an als normalerweise und Nahrungsaufnahme hat eine viel existenziellere Priorität. Manchmal ist es mir beinah gleichgültig, was ich esse, Hauptsache ich esse. Ich kann dann zum Beispiel einfach so von einem Stück Butter abbeißen, egal ob ich Brot dazu habe. Wieder in Gesellschaft zu essen und dazu noch am Tisch mit Teller und Besteck, ist gar nicht so leicht.

9. Juni

Und ich meine, dass derjenige sich wenig auf das Glück versteht, dessen Trachten nur geradewegs auf das Ziel gerichtet ist. (Thomas Mann, Felix Krull)

Es ist ungewohnt, morgens aufzuwachen und mir nicht als erstes noch halb im Liegen Schokoriegel und Kekse reinzustopfen. Stattdessen gehe ich in den Gemeinschaftraum der Campingplatzküche, wo ich mit Micha und Sabine zum Frühstück verabredet bin. Ich habe gestern einen Laib Brot und ein Glas Nutella gekauft und gebe mir alle Mühe, die Scheiben nur kleinfinger- und nicht daumendick zu bestreichen.

Nach dem Frühstück schauen wir uns in der Tourist-Information eine Ausstellung über die Natur des Fjälls und das Leben der Sami an. Vor dem Gebäude steht ein Wegweiser mit Entfernungsangaben, der auf lohnende Ziele und markante Orte in verschiedenen Himmelsrichtungen zeigt, darunter auch das Nordkap: 1350 km und 17,5 Stunden – für Autos. Für Fußgänger sind es noch 1459 km und 62 Tage, nach meiner Rechnung wenigstens.

10. Juni

Wie schön muss es erst im Himmel sein, wenn er von außen schon so schön aussieht! (Astrid Lindgren)

Das sanft wellige Tal, aus dem ich gekommen bin, erinnert aus dieser Perspektive an eine Modellbau-Miniatur-Landschaft. Es fehlt nur noch eine große Hand, die von oben Eisenbahnschienen hineinlegt. Der Boden ist ein rötlich-hellbrauner Teppich aus Sumpfgras und Heidekraut. Dazwischen verstreut liegen größere und kleinere zum Teil ineinander übergehende Waldstücke aus hellen Birken und dunklen Nadelbäumen.

Das Gestapfe entlang der Winterkreuze ohne Weg und Steg setzt sich bis zum Abend fort. Die heutige Etappe ist enorm kräftezehrend, aber auf irgendeine Weise auch sehr entspannend. Ich begegne keiner Menschenseele. Auch sonst passiert so gut wie gar nichts. Das Schmatzen meiner Tritte im Sumpf, kleine waldige Inseln, über mir der Himmel und zwischendurch die Rufe eines Birkhuhns, das ist alles. Ich fühle mich angenehm leer und bin doch so erfüllt von allem, was mich umgibt.

11. Juni

Dunkler Tannenwald dräute finster zu beiden Seiten des Wasserlaufs. Der Wind hatte kürzlich die weiße Schneedecke von den Bäumen gestreift, so dass sie aussahen als drängten sie sich unheimlich finster in dem schwindenden Tageslicht aneinander. Tiefes Schweigen lag über dem Lande, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam, so kalt, dass die Stimmung darin nicht einmal traurig zu sein schien. Vielmehr lag ein Lachen darüber, ein Lachen schrecklicher als jede Traurigkeit, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und grimmig wie die Notwendigkeit. Die unerbittliche, unerforschliche Weisheit des Lebens und seiner Anstrengungen. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens. (Jack London, Wolfsblut)

Nach Westen zu liegen eingebettet in riesige Fichtenwälder ein paar Seen und schimmern wie blankgeputzte, blaue Edelsteine auf dunkelgrünem Samt. In nördlicher Richtung steigt das Gelände weiter an und geht in eine zerklüftete Mondlandschaft über. Dort glänzen, eingekeilt in schwarzes Gestein und weiße Schneefelder, kleine halb zugefrorene Gewässer und erinnern an zerbrochene Spiegel. Das messerscharfe Abbild der bizarr geformten Silhouette der dunklen Felsen ringsum schwimmt zitternd auf der Oberfläche, zerschnitten von den weißlich-blauen Zacken der geborstenen Eisdecke.

Die Gegend ist rau und lebensfeindlich, dabei aber nicht abstoßend, sondern von durchaus anziehender Schönheit. Die Welt scheint plötzlich auf ganz wenige Dinge reduziert. Da ist nichts als das Zusammenspiel aus Wasser, Schnee, Fels und Eis. Meine Sinne haben Gelegenheit, sich zu entspannen. Die Luft ist kalt und geruchlos. Es herrscht vollkommene Stille und der einförmig graue Himmel hüllt alles in ein starres Licht, irgendwo zwischen Tag und Nacht. Eine reglose Atmosphäre aus reiner Ewigkeit, die Werden und Vergehen und alles Glück und allen Schmerz, die darin liegen, zu einer bedrückenden und zugleich erlösenden Zeitlosigkeit versteinert. Das Einzige, was sich hier bewegt, bin ich – winzig klein und unentschieden zwischen Entsetzen und Glückseligkeit.

12. Juni

Alles, was gegen die Natur ist, hat auf die Dauer keinen Bestand. (Charles Darwin)

Das Gestrüpp-Level habe ich für heute offenbar gemeistert. Jetzt kommt wieder ein Sumpf-Level. Manchmal fühle ich mich wirklich wie in einem Computerspiel: Die Natur hat ständig neue Herausforderungen zu bieten. Ich weiß nie, was noch kommt. Mal klappt alles wie am Schnürchen, mal gibt es einzelne Schwierigkeiten, die aber gut zu managen sind, mal frage ich mich, warum der reißende Gebirgsbach, der eiskalte Platzregen und die Sturmböen alle auf einmal kommen müssen, und mal gerate ich in Situationen, in denen ich mir ein zweites Leben wünsche, um, falls etwas schiefgeht, von vorn anfangen zu können.

Während der letzten Monate habe ich mich ganz gut warm gespielt, Sumpf allein bringt mich nicht mehr aus der Ruhe und so wird der Rest der Etappe zu einem herrlichen Nachmittagsspaziergang. Überall weite, sanft hügelige Grasflächen, hier und da das Plätschern eines Baches, versprengte Birkenwäldchen und kleine Seen, die in der Sonne glänzen. Es sieht beinah aus wie in einer künstlich angelegten Parklandschaft, wäre da nicht das morastige Schmatzen bei jedem Schritt. Als Liegewiese kommt dieser Untergrund jedenfalls nicht in Frage, es sei denn für ein Schlammbad.

Zum Glück finde ich eine halbwegs trockene, bewaldete Anhöhe, wo ich mein Nachtlager aufschlagen kann. Ringsum wachsen Unmengen Trollblumen, und ich verspüre, erst spaßhaft, dann ganz im Ernst, den Ehrgeiz, keine einzige von ihnen zu zertreten. Das Auspacken und Aufbauen gerät zu einem ziemlichen Herumgehüpfe zwischen den gelben runden Blütenbällen, die jetzt im Abendlicht auffällig grell leuchten. 

Nach dem Essen liege ich Im Schlafsack und betrachte die Blumen in meinem Vorzelt. Es fühlt sich an, als hätte ich Gesellschaft. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihnen eine gute Nacht wünsche. Wie lächerlich und kindisch, denke ich gleich darauf und habe einen Augenblick lang den Impuls, mich vor mir selbst zu schämen. Aber wofür eigentlich? Schließlich tue ich nichts weiter, als einem anderen Wesen Wertschätzung entgegen zu bringen.

 

Unsere Erde ist ein riesengroßes Ökosystem, wo alles mit allem verbunden ist. Jedes einzelne menschliche Individuum ist nur ein Glied in dieser endlosen Kette. Sobald wir irgendwo, sei es mittelbar oder unmittelbar, bewusst oder unbewusst, Schaden anrichten, leiden darunter nicht „nur“ Pflanzen und Tiere, sondern immer auch Menschen – Menschen, die jetzt leben und Menschen, die noch nicht einmal geboren sind. Wenn wir Mitmenschlichkeit wirklich ernst meinen, dann müssen wir sie als Mitgeschöpflichkeit denken. Wahrhaft menschenfreundlich ist nur, wer auch allen anderen Geschöpfen achtsam begegnet. Vielleicht ist es gar nicht so verrückt, mit Tieren und Pflanzen zu sprechen.